Schon jetzt gehört der Lehrermangel zu den größten Herausforderungen im Bildungssystem. Und weder kurz- noch langfristig werden genügend Absolventinnen und Absolventen die Hochschulen verlassen, um diesen Mangel auszugleichen. Bis 2035 werden mindestens 23.800 Lehrkräfte fehlen, prognostiziert die Kultusministerkonferenz (KMK). Eine entscheidende Stellschraube, um diesem Problem zu begegnen, ist der Quereinstieg beziehungsweise Seiteneinstieg.
Aktuelle Zahlen zum Quer- und Seiteneinstieg in Deutschland legte das Statistiscge Bundesamt am 4. Oktober 2023 vor. Demnach hatten im Schuljahr 2021/22 8,6 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer an den allgemeinbildenden Schulen keine anerkannte Lehramtsprüfung abgelegt. Rund 60.800 der bundesweit insgesamt 709.000 Lehrkräfte waren demnach Quer- und Seiteneinsteiger. Im Schuljahr 2011/2012 hatte der Anteil laut Statistik noch bei 5,9 Prozent gelegen. An den beruflichen Schulen hatten im Schuljahr 2021/22 laut Statistik des Bundesamte 20,8 Prozent der insgesamt 124.000 Lehrkräfte keine anerkannte Lehramtsprüfung.
Bildungsgewerkschaften reagierten mit Sorge auf die neuen Zahlen. Lehrkräfte im Quer- und Seiteneinstieg sorgen schon heute dafür, dass der Unterrichtsbetrieb läuft
, teilte die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Maike Finnern, mit. Aber sie bräuchten Unterstützung. D ie Kultusministerien müssen unverzüglich Hochschulen, Studienseminare, Schulämter, Landesinstitute und Personalräte an einen Tisch holen, um gemeinsam hochwertige berufsbegleitende Qualifizierungsangebote für Quer- und Seiteneinsteigende zu entwickeln.
Der Bundesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung, Gerhard Brand, erklärte, Kollegen aus anderen Berufen könnten ein Gewinn für die Schule sein – wenn es wenige Personen wären, die gut vorbereitet, berufsbegleitend qualifiziert und angemessen begleitet werden könnten. Diese Bedingungen gebe es aber nicht. Die Quote von Lehrkräften ohne Lehramtsprüfung sei vor allem an solchen Schulen hoch, die als Arbeitsort weniger attraktiv seien, gab Brand zu Bedenken. Dort also, wo wir die höchste pädagogische Qualität bräuchten, haben wir die höchste Anzahl an Menschen, welche die pädagogische Qualifizierung, wenn überhaupt, erst berufsbegleitend erhalten.
Trotz des hohen Bedarfs an ausgebildeten Lehrkräften ist die Zahl der Lehramtsabsolventinnen und -absolventen mit Master- oder Staatsexamensabschluss rückläufig, wie das Statistische Bundesamt mitteilte. Im Prüfungsjahr 2022 hätten rund 28.700 Lehramtsstudierende ihre Abschlussprüfungen bestanden – mehr als zehn Prozent weniger als noch zehn Jahre zuvor.
Die jüngste Statistik der KMK stammt vom Mai 2023. Die Kultusministerien unterscheiden darin nach Seiteneinstieg und Quereinstieg: Als Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger werden Menschen bezeichnet, die über kein abgeschlossenes Lehramtsstudium verfügen und die ohne ein Referendariat in den Schuldienst übernommen werden. Bei Quereinsteigerinnen und -einsteigern besteht im Gegensatz dazu die Pflicht eines Referendariates.
Laut KMK-Statistik wurde nur im Jahr 2022 jede zehnte ausgeschriebene Stelle im Schuldienst mit einem Seiteneinsteiger oder einer Seiteneinsteigerin ohne ein lehramtsbezogenen Abschluss besetzt. Die Quote für den Seiteneinstieg lag bundesweit bei 9,4 Prozent. Hinzu kommen Quereinsteigende, die ohne Lehramtsstudium in den sogenannten sogenannten Vorbereitungsdienst (Referendariat) eingestellt wurden. Hier lag die Quote 2022 bei 4,5 Prozent.
Ingesamt war der Anteil der Seiten- und Quereinsteigenden in den ostdeutschen Ländern deutlich höher als in den westdeutschen Bundesländern. Am höchsten war die Quote der Seiteneinsteigenden beziehungsweise Quereinsteigenden in Sachsen-Anhalt. Hier wurden 46,7 Prozent der Stellen durch Bewerberinnen und Bewerber ohne Lehramtsstudium eingestellt. Im Vorbereitungsdienst waren es noch einmal 8 Prozent. Auch Berlin gehörte zu den Spitzenreitern. 18 Prozent der Stellen im Schuldienst und 17,2 Prozent der Stellen im Vorbereitungsdienst wurden durch Quereinsteigerinnen oder Quereinsteiger besetzt.
Aus der Statistik wird deutlich, dass der Seiteneinstieg in die Schule auch ohne Hochschulabschluss auf Masterniveau längst üblich ist, vor allem in jenen Bundesländern, wo der Mangel besonders groß ist. Von den 9,4 Prozent Seiteneinsteigenden wurden bundesweit 3,9 Prozent ohne Master eingestellt. Besonders ausgeprägt war dieser Weg in Brandenburg und auch in Sachsen-Anhalt.
Welche Wege für den Quer- und Seiteneinstieg ins Lehramt gibt es in den Bundesländern?
Quereinsteigende haben meist mindestens ein für das Lehramt relevantes Fach studiert, aber kein Lehramtsstudium absolviert. Voraussetzung für den Quereinstieg in die Schule ist, dass es in einem der Fächer nicht genügend ausgebildete Lehrkräfte gibt. Die sogenannten Mangelfächer unterscheiden sich von Jahr zu Jahr und von Bundesland zu Bundesland. Häufig sind die MINT-Fächer betroffen, aber auch Fächer wie Musik oder Kunst sind häufig dabei. Die Quereinsteigenden besuchen, je nach Bundesland, vor dem Einsatz im Schuldienst einen mehrwöchigen oder manchmal auch nur mehrtägigen Einführungskurs und werden dann berufsbegleitend weiterqualifiziert. Außerdem werden sie in den Schulen besonders unterstützt, etwa durch Mentoring. In einigen Bundesländern gibt es den Quereinstieg aber auch nur in das berufsbegleitende Referendariat.
Ein Gutachten vom Juli 2023 von Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung skizziert für jedes Bundesland den Mangel und die länderspezifischen Regelungen zum „Seiteneinstieg in den Schuldienst“.
Einige Bundesländer, in denen die Personalnot besonders groß ist, lockern die Bedingungen für den Quereinstieg. In Thüringen können zeitlich begrenzte Arbeitsverträge von Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern seit dem 28. November 2023 einfacher entfristet werden, auch wenn sie die bisherigen Voraussetzungen nicht erfüllen, um direkt entfristet eingestellt zu werden. Mit der neuen Richtlinie können sie aber nach einer Bewährungszeit von einem Jahr nun doch längerfristig im Schuldienst bleiben. Voraussetzung ist, dass keine andere Lehrkraft mit einer höheren Qualifikation für den Posten zur Verfügung steht.
Lehrkräfte, die als Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger an Brandenburger Schulen unterrichten, können dort auch mit einem Bachelor-Abschluss verbeamtet werden. Voraussetzung soll eine vorherige Qualifizierung und ein Mentoring-Programm für die Lehrkräfte sein.
Sachsen-Anhalt hatte schon mit der Stellenausschreibung vom September 2022 den Seiteneinstieg erleichtert. Seitdem können Seiteneinsteigende mit einem Bachelor-Abschluss, aus dem kein Unterrichtsfach abgeleitet werden kann, nach einem Probejahr eine Entfristungsperspektive erhalten. Ein Master ist nicht mehr nötig. Dazu müssen sie sich im Gegenzug verpflichten, eine fachwissenschaftliche Qualifizierungsmaßnahme für ausgewählte Fächer der Sekundarschule zu absolvieren. Für das Schuljahr 2023/24 wurden erstmals auch Stellen für den Seiteneinstieg ganz ohne Hochschulabschluss und selbst ohne Abitur für ausgewählte Fächer an Sejundarschulen ausgeschrieben. Die Maßnahme ist bundesweit umstritten. Das Schulportal hat dazu mit der Bildungsministerin von Sachsen-Anhalt, Eva Feußner (CDU) und mit Thomas Lippmann, dem Bildungspolitiker der Linkspartei im Landesparlament, ein Streitgespräch geführt.
Wie lange dauert der Quereinstieg in die Schule?
Auch das ist je nach Bundesland unterschiedlich. Die Vorbereitungskurse sind in der Regel relativ kurz und umfassen nur einige Wochen. Häufig erfolgt der Einstieg in den Schuldienst direkt über das Referendariat. Die Dauer des Referendariats schwankt in den Bundesländern zwischen 12 und 24 Monaten. In den meisten Ländern sind es 18 Monate. Mehrere Universitäten bieten mittlerweile auch Masterstudiengänge für Quereinsteigende ins Lehramt an. Der Masterstudiengang K2teach
an der FU Berlin beispielsweise bereitet Quereinsteiger und Quereinsteigerinnen auf die Herausforderungen des Lehrerberufs vor. Das Schulportal hatte das 2016 gestartete Angebot in einem Beitrag genauer vorgestellt.
Mehr Informationen
Der Deutsche Bildungsserver hat im Juli 2022 ein Informationsportal für alle, die sich für den Lehrerberuf interessieren, gestartet. Auf dem Portal Lehrer*in werden können die Interessenten ihre präferierten Schulformen und gewünschten Bundesländer eingeben und werden dann direkt zu den entsprechenden Informationen weitergeleitet. Eine interaktive Karte informiert zudem über den Einstellungsbedarf ab 2022 für Lehrer:innen je nach Schulart in den einzelnen Bundesländern. Drüber hinaus gibt es Antworten auf die wichtigsten Fragen und Berichte von Lehrkräften, die über ihren Einstieg in den Beruf berichten.
Was verdient man als Quereinsteigerin oder Quereinsteiger in den Lehrerberuf?
Wer das berufsbegleitende Referendariat abgeschlossen hat, verdient wie jede andere ausgebildete Lehrkraft auch. Anders ist es bei Seiteneinsteigenden, die keine volle Lehrbefähigung bekommen können, weil sie bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllen und deshalb nur befristet, zum Beispiel als Vertretungslehrkräfte, eingesetzt werden.
Wo gibt es die meisten Quer- und Seiteneinsteiger in den Lehrerberuf?
Zu beachten ist, dass die Begriffe „Quereinstieg“ oder „Seiteneinstieg“ in den Bundesländern sehr unterschiedlich definiert sind. Einige erfassen den Einstieg in das Referendariat ohne Lehramtsstudium gar nicht als „Quereinstieg“, andere dagegen schon. Die Zahlen sind deshalb nicht oder nur eingeschränkt vergleichbar. In der Regel haben Quereinsteigende einen Uni-Abschluss, aber kein abgeschlossenes Lehramtsstudium und werden etwa über Nachqualifizierungen in Pädagogik geschult.
Vor allem die ostdeutschen Bundesländer müssen seit Jahren in großem Umfang auf Quereinsteigende setzen. Das zeigt auch die Abfrage des Schulportalszu Beginn des Schuljahres 2021/22.
In Berlin etwa waren 60 Prozent der Neueinstellungen Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger. Damit war Berlin absoluter Spitzenreiter.
In Brandenburg wurden 21 Prozent der Stellen mit Quereinsteigenden besetzt, 13 Prozent mit befristeten Bewerbern ohne Lehramtsausbildung.
In Mecklenburg-Vorpommern hatten 20 Prozent der Neueinstellungen kein Lehramtsstudium absolviert.
Sachsen-Anhalt hat für die Ausschreibungsrunde von Mitte Februar bis März 2021 laut Ministerium erstmals Agenturen eingeschaltet, die gezielt nach Lehrkräften aus dem Ausland sowie nach Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteigern suchen.
Auch in einigen westdeutschen Bundesländern wurden offene Lehrerstellen in Mangelfächern, für die es keine ausgebildeten Bewerberinnen und Bewerber gab, mit Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern besetzt – allerdings in geringerem Umfang.
Seit dem Schuljahr 2021/22 gibt es erstmals auch in Bayern Quereinsteigende in den Vorbereitungsdienst an Mittelschulen. Das Kultusministerium bezeichnet diesen Weg ins Lehramt als „Sondermaßnahme“.
Welche wissenschaftliche Erkenntnisse zum Quereinstieg ins Lehramt gibt es?
Die Studie „Unterschiedliche Wege ins Lehramt – unterschiedliche Kompetenzen?“, die im Jahr 2020 veröffentlicht wurde, hat gezeigt, dass die Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger im Vergleich zu den regulären Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern in fachlicher Hinsicht nicht schlechter abschneiden. Sie zeigte auch mehr Stressresistenz bei den Quereinsteigenden. An der Untersuchung beteiligt waren Christin Lucksnat und Dirk Richter von der Universität Potsdam. „Die fachlichen und fachdidaktischen Kompetenzen und auch die Motivation sind auf einem ähnlichen Niveau. Ungünstigere Voraussetzungen haben wir bei den Quereinsteigern nur in den pädagogisch-psychologischen Kenntnissen festgestellt“, sagte Lucksnat im Interview mit dem Schulportal.
Im November 2020 legte das Verbundprojekt „Monitor Lehrerbildung“ die Untersuchung „Flexible Wege ins Lehramt?! Qualifizierung für einen Beruf im Wandel“ vor. Demnach gab es zu diesem Zeitpunkt nur an 8 von 61 deutschen Hochschulen berufsbegleitende Weiterbildungsstudiengänge für Seiteneinsteigende ohne Lehramtsqualifikation. 16 Hochschulen hatten Quereinstiegs-Masterstudiengänge in Vollzeit für das Lehramt konzipiert, viele aber nur für das Lehramt an Berufsschulen der gewerblich-technischen Fachrichtungen.
Im März 2019 hat Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung in einer Übersicht veröffentlicht, wie viele Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger 2017/18 in den 16 Bundesländern beschäftigt wurden. Bundesweit lag der Anteil damals bei 12,7 Prozent. Außerdem hat Klemm die für jedes Land seinerzeit gültigen Bestimmungen skizziert, welche Voraussetzungen zu erfüllen sind, um als Lehrer oder Lehrerin eingestellt zu werden, und wie die weitere Qualifizierung aussieht.
Die Bertelsmann Stiftung hatte 2018 in einer Studie nachgewiesen, dass sich die Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger in Berlin tatsächlich, je nach sozialer Lage der Schule, ungleich verteilen. Der Anteil der Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger war demnach schon im Schuljahr 2016/17 an Grundschulen in sozial schwierigen Lagen mit durchschnittlich knapp 7 Prozent mehr als doppelt so hoch wie an Schulen in besser gestellten Lagen. Über die Ergebnisse und die Konsequenzen sprach das Schulportal mit Alexandra Marx und Dirk Zorn aus dem Autorenteam der Studie.
Wie werden Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger an Schulen unterstützt?
Neben einer Ausbildung ist auch die Unterstützung für die Quereinsteigenden an den Schulen entscheidend für den Erfolg. Christin Tellisch, Vizepräsidentin für Forschung der Hochschule für angewandte Pädagogik in Berlin, hat sich solche Mentoring-Programme genauer angeschaut und erklärt im Interview mit dem Schulportal, welche Unterstützung Quereinsteigerinnen und Quereinsteigern in der Schule brauchen, wie Mentorinnen und Mentoren von dem Input der Mentees profitieren können und wie sich Mentoring auch in Zeiten von Lehrkräftemangel umsetzen lässt.
Author: Matthew Young
Last Updated: 1703539922
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